Sie schreien, sie weinen und sie sind wütend. Schon über 40 Jahre ist es her, dass Proteste in diesem Ausmaß in den Straßen von Teheran und überall im Iran stattfanden. Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Jîna Mahsa Amini. Sie verstarb am 16. September 2022 in einem Teheraner Krankenhaus. Viele Stimmen legen jedoch die Vermutung nahe, dass der Grund für ihren Tod die gewaltsame Festnahme und die Misshandlungen durch die Sittenpolizei Gašt-e eršād waren. Der Anlass für ihre Verhaftung war, dass ihr Kopftuch ihr Haar nicht vollständig bedeckt hatte. Amini ist jedoch bei weitem kein Einzelfall. Nach Recherchen der Menschenrechtsorganisation HRANA wurden vom Frühjahr bis Mitte Juli 2022 allein in der Provinz Kermanshah 1.700 Frauen von der Sittenpolizei festgenommen, weil sie sich angeblich nicht an die Kopftuchpflicht gehalten hatten.
Die Zwangsverschleierung ist nicht das einzige Mittel, mit dem das iranische Regime versucht, seine Bürger und insbesondere seine Frauen zu unterdrücken. Grundlegende Rechte sind stark beschnitten. Frauen dürfen sich zum Beispiel nicht scheiden lassen und Vergewaltigung in der Ehe ist erlaubt. Welche Rechte und Pflichten im Iran gelten, hängt stark davon ab, wer gerade Staatsoberhaupt ist und wie die Stimmung in der Gesellschaft allgemein ist. Viele denken an die Zeit vor 1979 zurück, als die Monarchie im Iran durch eine schiitische islamische Republik ersetzt wurde. Auf den Bildern von damals sieht man Frauen am Strand, wie sie sich in ihren Bikinis sonnen oder wie sie in westlicher Kleidung durch die Straßen flanieren. Heutzutage müssten diese Frauen um ihr Leben bangen, wenn sie sich so in der Öffentlichkeit zeigen würden. Sogar das Verrutschen ihrer Kopfbedeckung könnte ihr Todesurteil sein. Zwar war die Menschenrechtslage vor 1979 auch alles andere als optimal, aber Fakt ist, dass zumindest die Frauenrechte im Iran während der Monarchie vergleichsweise fortschrittlich waren.
Was es bedeutet, in solch einem Regime zu leben, hat meine Interviewpartnerin Rozhan* am eigenen Leib erfahren müssen. In unserem Interview erzählt sie von ihren Erlebnissen und was der aktuelle Protest für sie bedeutet.
Wann und warum bist du nach Deutschland gekommen?
Im April 2018 bin ich nach Deutschland gekommen, damals war ich 19 Jahre alt. Im Iran an der Uni hatte ich Schwierigkeiten. Ich dachte mir: „Ich gehe an die Uni, und dann bekomme ich einen guten Job, aber es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe gemerkt, dass ich, wenn ich als Frau im Biologie-Bereich eine gute Arbeit finden will, entweder Vitamin B oder Geld haben muss“. Dann dachte ich mir: „Okay, das ist nicht optimal und ich will, dass mein Leben besser und nicht schlechter wird.“ Danach habe ich angefangen, Deutsch zu lernen und bin dann nach Deutschland gekommen, um zu studieren.
Wie war deine Kindheit im Iran?
Ich würde sagen, dass ich nicht so eine leichte Kindheit oder Jugend im Iran hatte. Natürlich, weil ich eine Frau bin. Iran ist ein Land, das dir immer ein Schuldgefühl gibt. Man denkt immer, man hat etwas falsch gemacht und man muss immer aufpassen, was man machen kann oder nicht und was eben „richtig“ ist. Mädchen mussten sich bedecken, besonders im Gymnasium. Wir hatten männliche Lehrer, die jeden Tag vor dem Unterricht unsere Socken kontrolliert haben, ob sie auch lang genug waren. Der Grund dafür war, dass wir manchmal die Beine übereinander kreuzen und man dann unsere Haut an unseren Beinen sehen könnte, was ja aufreizend wäre. Ich musste mich immer anpassen und jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gegangen bin, darauf achten, was ich anziehen muss. Außerdem konnte ich damals unter 18 Jahren nicht ins Ausland reisen, ohne die Erlaubnis meines Vaters. Bis zu einem gewissen Alter kennt das ja jeder, dass die Eltern ihre Erlaubnis geben müssen, aber ich habe eine offizielle Bestätigung gebraucht, dass mein Vater zugestimmt hat.
Inwiefern unterscheidet sich dein Leben hier in Deutschland von dem im Iran?
Hier in Deutschland hast du ein System , in dem du, wenn du dir Mühe gibst, auch belohnt wirst, sei das in Form von Geld oder einem Abschluss. Im Iran ist das nicht so. Du machst irgendwas und hoffst darauf, dass es funktioniert, aber es kann sein, dass es letztendlich gar nicht funktioniert. Es ist alles korrupt und chaotisch. Du musst viel Glück und Kontakte haben. Das System im Iran ist sehr instabil und deswegen fühlt man sich immer gestresst, weil man nicht weiß, was morgen passiert. Es ist eine Art Glücksspiel.
Seit den Protesten sind die Internetzugänge drastisch eingeschränkt. Inwiefern hältst du momentan Kontakt zu deiner Familie im Iran?
Manche Seiten waren schon vor den Protesten gesperrt oder eingeschränkt. Meine Mutter hat ein besonderes VPN gefunden, für welches man bezahlen muss und dieses funktioniert auch teilweise. 2019 gab es auch eine große Internetblockade, während der ich meine Familie ganze zehn Tage nicht erreichen konnte. Anrufen ging auch nicht wirklich, weil die Verbindung sehr schlecht war. Ich musste total weinen in dem Moment, weil ich mir solche Sorgen gemacht hatte.
In der Vergangenheit gab es schon mehrere Proteste. Inwiefern unterscheidet sich die momentane Situation von diesen Phasen?
Ich persönlich hatte zuerst gar keine Hoffnung. Ich dachte so: „Scheißland“. Darf ich das so sagen?
Natürlich darfst du das so sagen!
Ja, also es ist ein Scheißland und die Leute sind so belastet. Die meisten machen sich Sorgen darum, wie sie ihre Kinder ernähren können. Ich war selbst geschockt, dass das ganze Land etwas gemacht und einheitlich gehandelt hat. Ich hatte das nicht erwartet. Der Grund ist meiner Meinung nach, dass die ganzen Menschen jahrelang grundlegende Rechte entzogen bekommen haben, welche eigentlich normal sein sollten. Es hat 40 Jahre gedauert, bis sie so richtig ihre Wut herauslassen konnten und ich glaube, sie werden nicht aufhören. Die ganze Zeit haben sie gehofft, dass es besser wird und es wurde nie besser.
Wie du meintest, haben die Proteste in dir Hoffnung ausgelöst. Gibt es für dich vielleicht auch jemanden, der dich während des Protests besonders inspiriert hat oder eine Art Vorbild ist?
Auf jeden Fall die jüngere Generation. Das waren diejenigen, die auf die Straßen sind und mutig waren. 1980 bis 1988 herrschte Krieg zwischen Iran und dem Irak. Meine Eltern waren damals junge Erwachsene. Ihr einziges Ziel war es, dafür zu sorgen, dass sie normal leben und Kinder bekommen konnten. Um andere Dinge haben sie sich keine Sorgen gemacht. Bei meiner Generation war es so, dass wir uns dachten: „Wir haben es überlebt, jetzt wollen wir mehr erfahren und ein besseres Leben haben, aber hier geht es nicht, deswegen wandern wir aus.“ Fast alle meine Freunde leben mittlerweile im Ausland. Aber die jüngere Generation hat gar keine Angst und die können „nein“ sagen und für sich einstehen. Ich persönlich konnte nicht „nein“ sagen, bevor ich nach Deutschland gekommen bin, weil mir das nie richtig beigebracht wurde. Ich habe Respekt vor der jüngeren Generation. Ein Mensch, der viel gemacht hat, ist die Schauspielerin Nazanin Boniadi. Sie hat sich bei der UN stark für den Iran eingesetzt. Die Menschen im Iran haben schon viel erreicht, aber politisch können sie allein nichts verändern. Dass die UN eingreift, ist das erste Mal in der Geschichte und ich hoffe, dass es funktioniert.
Man hört seit den Protesten immer wieder von der Sittenpolizei. Hast du oder jemand den du kennst schon Erfahrungen mit der Sittenpolizei gemacht?
Als ich 16 Jahre alt war, wurde ich festgenommen. Ich war mit meiner Mutter unterwegs. Sie haben gefragt: „Wo geht ihr hin, was wollt ihr machen?“ Ich dachte mir nur: „Was willst du von mir?“ Meine Mutter und ich sind ganz normal die Straße entlanggelaufen und ich war gerade mal 16 Jahre alt. Sie meinten dann zu meiner Mutter, dass sie mir angemessene Kleidung bringen soll und dass sie hier mit mir auf sie warten. Stattdessen sind sie mit mir in eine Zentrale gefahren. In dieser Zentrale musste ich jedoch keinen Kurs machen, um zu lernen, wie man sich kleidet, heutzutage ist das anscheinend so. Allerdings musste ich solche Mugshots machen. Ich musste mich dann von allen vier Seiten fotografieren lassen und auf meinem Schild stand übersetzt „Crime: unangemessenes Hijab“. Ich war dann noch ein paar Stunden dort und musste ein Dokument unterzeichnen auf dem stand, dass ich schwöre, das nicht nochmal zu tun. Nach drei Verstößen würde ich vor das Gericht kommen und mir würde eine Freiheitsstrafe drohen. Mein Vater musste mich dann abholen, weil meine Mutter das nicht durfte. Der Tag war sehr traumatisierend für mich. Danach hatte ich immer richtig Angst. Jedes Mal, wenn ich ein Auto von denen auf der Straße gesehen habe, habe ich fast eine Panikattacke bekommen.
Findest du, dass die Reaktionen im Ausland angemessen sind, oder sollten die Leute noch mehr Unterstützung zeigen und wenn ja, in welcher Form?
Natürlich wünsche ich mir das. Von vielen Ländern hätte ich mehr erwartet. Die sagen immer: „Wir stehen in Solidarität mit den iranischen Menschen“, aber das einfach zu sagen, reicht nicht. Wir haben schon seit Jahren Sanktionen und es bringt auch zu einem gewissen Maß etwas. Aber ich habe das Gefühl, dass auch diese teilweise umgangen werden. Ich kann verstehen, wenn Politiker, die Verantwortung für ein ganzes Land haben, keinen Streit mit solch einem Regime anfangen wollen. Sie wollen ja auch ihre eigenen Leute schützen. Aber man kann auch andere Lösungen finden, ohne dass es zu großen Konflikten kommt. Ich bin zufrieden, dass etwas gemacht wird, auch wenn es minimal ist. Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert und das ist mehr, als was ich mir jemals vorgestellt habe.
Was wünschst du dir für den Iran?
Das ist eine sehr gute Frage. Also vor allem wünsche ich mir ein Land, in dem man sich zu Hause fühlt. Der Iran ist mein Heimatland, aber ich habe mich nie sicher gefühlt. Andere sagen: „ich gehe heim“ und das ist mega schön. Für mich ist das auch so, aber nur wegen meiner Familie. Jedes Mal, wenn ich zurück gehe, muss ich vieles ignorieren, damit es mir gut geht. Wir haben jetzt fast nichts mehr. Das Regime hat fast alles kaputt gemacht. Ich wünsche mir, dass Iran zu einem Land wird, in dem man sich sicher fühlt. Und dass alle Menschen wieder zusammen das Land aufbauen können, wie es früher war. Diese Vorstellung ist natürlich sehr idealisiert.
Ein Gefühl von Sicherheit und Heimat sollte nicht nur eine Idealvorstellung sein. Rozhans Wunsch verdeutlicht, wie überfällig die Revolution im Iran war. Lange genug haben sie den Schmerz ganzer Generationen heruntergeschluckt. Die Menschen im Iran sind nicht nur mutig, sie setzen sogar ihr Leben aufs Spiel. Ihre größte Waffe ist die Hoffnung, die sie bei so vielen Menschen weltweit auslösen. Überall auf der Welt haben Frauen mit ähnlichen Umständen zu kämpfen. Die Thomson Reuters Foundation hat auf Basis einer Umfrage eine Liste der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen veröffentlicht. 548 Frauenrechtsexpert:innen wurden hierfür befragt. Platz eins auf der Liste belegt Indien und sogar die USA sind unter den Top Ten. Auch wenn es der Iran nicht auf die Liste „geschafft“ hat, heißt es nicht, dass er deswegen weniger gefährlich für Frauen ist. „Das Ranking lässt jedoch die Frage unbeantwortet, ob genau diese Länder sich ein Beispiel an den mutigen Menschen im Iran nehmen und sich selbst gegen ihre Unterdrücker auflehnen könnten. Heute ist der Protest im Iran, morgen vielleicht schon in Indien oder Afghanistan. Die Geschichte hat bereits mehrfach bewiesen, dass sich Proteste, wie sie momentan im Iran stattfinden, wie ein Lauffeuer ausbreiten können. Der arabische Frühling 2010/2011 sei hier als eindrucksvolles Beispiel genannt. Umso mehr sich der Iran zum Positiven verändert, desto mehr Menschen werden dazu inspiriert, für ihre Rechte einzustehen und auf die Straßen zu gehen.
Auch in Darmstadt hat sich eine Gruppe junger Menschen zusammengefunden. Sie selbst bezeichnen sich als eine unabhängige und unpolitische Gruppe von Iraner:innen und Deutschen, die gemeinsam die Stimme für den Iran sein wollen. „Unser größtes Ziel ist es, gemeinsam die Stimmen der Menschen im Iran zu verstärken“, sagt die Gruppe. Jeden Mittwoch veranstalten sie in den Straßen von Darmstadt Kundgebungen und Demonstrationen. Zusätzlich betreiben sie die Social-Media-Plattformen @iran.darmstadt und @fraulebenfreiheit.darmstadt. Reza*, der Mitbegründer der Protestgruppe, erzählt, dass Social Media seiner Meinung nach eine wichtige Rolle für die globale Aufmerksamkeit für die Proteste im Iran darstellt. Durch Hashtags wie #MahsaAmini konnte sich der Protest über die Landesgrenzen des Irans ausbreiten und Menschen überall auf der Welt unabhängig von der derzeitigen Berichterstattung erreichen. Zusätzlich teilt er, welche Auswirkungen der Erfolg der Revolution im Iran haben könnte. „Wenn es passiert, dass Iran frei wird, glaube ich, dass es im ganzen Nahen Osten eine ganz andere Stimmung sein wird.“ Um diesen Erfolg umzusetzen, appelliert Reza an jeden einzelnen von uns, seinen oder ihren Teil beizutragen. Wie er so schön sagt: „Wissen ist Macht.“ Sich selbst und seine Mitmenschen zu informieren, ist das Mindeste, das man tun kann. Auch wenn das Teilen eines kleinen Instagram-Posts unzureichend erscheinen mag, kann es doch große Auswirkungen haben. Die Politikerin der Grünen Maryam Blumenthal hat eine politische Patenschaft für den zum Tode Verurteilten Mahan Sadarat übernommen. Über ihre Social-Media-Profile animierte sie ihre Follower:innen den Hashtag #mahan_sadarat zu teilen und Druck auszuüben und tatsächlich wurde daraufhin sein Todesurteil zurückgezogen. Somit kann jeder seinen Teil leisten und die mutigen Menschen im Iran unterstützen.
*Die Namen in diesem Artikel wurden aus Sicherheitsgründen und auf Wunsch der Interviewpartner:innen geändert
Von Nina Stemmle
Foto: Symbolbild, Pixabay