Warnung: In diesem Interview werden die Themen Depressionen, Gewalt und Suizid thematisiert.
Im Teenageralter erkrankte Merle Meier an Depressionen und versuchte mehrfach, sich im Alter von 18 Jahren das Leben zu nehmen. In unserem Interview spricht sie über die Entstehung der Depressionen, den Selbstmordversuch, der ihr Leben veränderte und wie sie heutzutage versucht, Menschen zu helfen, die ebenfalls unter Depressionen leiden.
„Für die Leser:innen würde ich gerne damit anfangen, dass du erstmal erzählst, wer du bist und wie deine Geschichte begann.“
Merle Meier: „Mein Name ist Merle Meier und meine Geschichte, die ich jetzt niedergeschrieben habe, begann ungefähr 1998. 1999 war ich dann betroffen von einer Depression und damit begann praktisch der schlimme Part meiner Lebensgeschichte. Ungefähr nach einer schwierigen Beziehung, die ich hatte, bin ich immer weiter in die Depression gerutscht und kam nicht mehr raus. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich praktisch nur noch eine lebende Hülle und als ob in mir drinnen schon alles tot wäre. Es war unwahrscheinlich schlimm, wie vorherrschend dieses Gefühl war, sodass ich praktisch nichts mehr gespürt habe. Abends kam ich nicht in den Schlaf, weil mich schlimme und schwere Gedanken immer begleitet haben und morgens war ich gerädert und wollte den Tag dann kaum anfangen und so ging das immer weiter bergab. Irgendwann habe ich in dieser Phase nach Monaten eben als Lösung den Tod gesehen und da sind dann im Laufe der Zeit die Selbstmordgedanken immer präziser geworden.“
„Du hast gesagt, dass die Depressionen nach einer schwierigen Beziehung begonnen haben. Wie kam es denn dazu, dass genau durch diese Beziehung Depressionen entstanden sind?“
Ich hatte eine Beziehung mit fünfzehn, bis ich achtzehn war und das war so eine perfekte Vorzeigebeziehung. Da habe ich mich gut mit den Eltern meines Freundes verstanden und er sich gut mit meinen und alles war immer nur perfekt nach außen. In mir drinnen sah es dann aber trotzdem manchmal anders aus, sodass ich gedacht habe: „Nein, es ist nicht immer alles so schön“, weil es, berechtigterweise, auch Sorgen meinerseits gab, weil mein damaliger Freund gerne mehr als geflirtet hat. Irgendwann habe ich dann gedacht ‘Nee, das will ich alles so nicht mehr’ und hab mich getrennt und habe dann die Beziehung zu diesem neuen Mann begonnen. Das war so ein Typ Großmaul vor dem Herrn und ein Schlägertyp und Kiffer. In dem Moment habe ich gedacht: ,Ich muss rebellieren‘ und habe etwas komplett anderes in ihm gesucht. Dann ist es in dieser Beziehung noch mehr bergab gegangen, weil vom Selbstwertgefühl nichts mehr übrigblieb. Der Typ hat so Psychospielchen mit mir gespielt und die Beziehung war alles andere als gesund. Es kam zu einem Vorfall, bei dem er mich dann auch mal geschlagen hat und ich mich dafür entschuldigt hab, dass er mich geschlagen hat. Das muss man sich mal vorstellen. Irgendwie kam es zum Glück noch zu einer Trennung, aber ich bin dann immer weiter in diese tiefen, schweren Gedanken gerutscht. Das ist, als ob du aufstehst, aber die ganze Welt ist trotzdem dunkel und als ob es keine Hoffnung mehr gibt. So kann man sich das vorstellen. Als ob man irgendwann so ein innerliches Wrack ist, was nur noch körperlich lebt.“
„Als du die Depressionen bekommen hast, kamst du ja in die Tagesklinik. Wie wurde das entschieden?”
„Ich war psychisch so am Boden, dass natürlich alle Hilfen, die man bekommen kann, vom Hausarzt geraten wurden. Der Hausarzt hat gesagt, es könnte gut sein, dass ich eine Tagesstruktur bekomme und dann abends eben in einer gewohnten Umgebung, bei mir zu Hause, sein kann. Dann hat man eben jeden Grashalm genommen und ich habe es ausprobiert. Das war total kontraproduktiv, denn im Nachhinein würde ich sagen, es hätte geholfen, wenn ich andere Menschen, die an Depressionen erkrankt sind, kennengelernt hätte. In einer Selbsthilfegruppe hätte ich ja gesehen, dass andere Menschen auch betroffen sind von diesen schlimmen Gedanken. In der Tagesklinik stellte es sich dann so dar, dass da Leute waren mit anderen Krankheitsbildern. Solche, die aggressiv waren, andere, die Psychosen hatten, irgendeine alte Oma mit irgendwas und das hat mir alles nur komplett Angst gemacht und mich immer nur weiter in die Tiefe rutschen lassen.“
„Hattest du bei deinen vorherigen Selbstmordversuchen Angst oder gab es einen Überwindungsmoment?“
„Angst ist ein Wort, dass keinen Platz mehr hat. Angst habe ich überhaupt nicht gehabt, auch nicht bei dem Selbstmordversuch mit dem Strommast. Das ist nur der Wunsch nach Befreiung, dass man endlich alles los ist an negativen Gedanken. Deshalb passt Angst als Wort hier tatsächlich gar nicht rein bei mir.“
„Du hast vor dem Selbstmordversuch, der dein Leben veränderte, versucht, dich mit Schlaftabletten umzubringen. Wie stelle ich mir diese Situation vor, denn du schreibst in deinem Buch, dass du die Tabletten genommen hast und plötzlich doch ein Panikmoment da war?“
„Das war einfach nur unangenehm. Ich habe mir das halt einfach vorgestellt, dass ich einschlafe und dann tot bin, fertig aus. Das, was dann passiert ist, war unangenehm, weil das Gefühl, dass plötzlich jedes Körperteil kribbelt und so langsam müde wird und ich selbst wurde aber nicht müde, das konnte ich nicht gut aushalten. Dann habe ich mir stattdessen die Finger in den Hals gesteckt und den Selbstmordversuch damit dann abgebrochen.“
„Der 27. Februar 1999 war dann der Tag, an dem sich dein Leben ändern sollte. Was ist an diesem Tag passiert?“
„Ich hatte ja meinen Plan mit dem Selbstmord, den ich dann umsetzen konnte und natürlich hat mich das befreit und eigentlich hat mich das normaler gemacht, als man mich sonst kannte. Ich hatte, glaube ich, sogar mehr Power und mehr Energie, weil ich wusste, gleich laufe ich los und steig den Strommast hoch. Ich habe noch normal gefrühstückt und wollte dann einfach nur noch dahinlaufen und an die Stromleitung fassen, damit ich tot bin. Ich kann davon keine große Story erzählen, weil mehr war es gar nicht. Es war nur noch dieser Drang, ich will das jetzt umsetzen, ich will es machen, ich will es durchziehen und zwar schnell. Es war nur noch das Hoffen, dass nichts schiefgeht und dass ich da nicht abrutsche oder dass mich nicht noch irgendein Nachbar abhalten kann und mein Vater nicht so früh zum Joggen hinterherkommt. Das waren meine Ängste.“
„Warum hast du dich dazu entschieden, keinen Abschiedsbrief zu hinterlassen?“
„Das war keine Entscheidung. Ich habe einfach nicht darüber nachgedacht, dass ich irgendwem noch Zeilen hinterlassen sollte oder könnte. Darüber habe ich nicht eine Sekunde bei irgendeinem Selbstmordversuch nachgedacht.“
„Weißt du noch, was passiert ist, nachdem du an die Leitung gefasst hast?“
„Da war der Stromstoß und der Fall aus zehn Metern Höhe, aber ich habe noch gesprochen. Als mein Vater mich gefunden und in den Armen gehalten hat, habe ich gesagt, dass ich meine Beine nicht mehr spüre. Das weiß ich jedoch nicht mehr.“
„Wie fühlt es sich im Nachhinein an, dass du anschließend vier Wochen im Koma lagst?“
„Das war wie ein traumloses Schlafen. In diesen vier Wochen Koma habe ich nichts gespürt. Ich erinnere ich an den Moment, als ich aufgewacht bin und im selben Moment wusste: ,Ich bin jetzt behindert‘. Das weiß ich noch. Heute denke ich mir, mir wurde ein zweites Leben geschenkt und das Ganze ist verbunden mit Dankbarkeit, weil ich jetzt eine glückliche Frau bin. Aus dem Gesamtkonstrukt, was ich alles Schlimmes durchgemacht habe, dass das alles hinter mir liegt und ich jetzt glücklich bin, ergibt sich eine Dankbarkeit. Außerdem versuche ich Menschen mit meinem Buch ‘Mein Selbstmord ist mein Anfang‘ zu helfen.“
„Wie war für dich die Situation, als dir von den Ärzten erzählt wurde, dass du querschnittsgelähmt bist und jetzt im Rollstuhl sitzen musst?“
„Das war für mich okay, denn ich habe neue Medikamente bekommen und mir ging es psychisch wieder gut. Ich habe mich dann nur auf den Körper konzentriert. Das Bestreben war einfach da, wieder selbstständig zu werden und das Leben weiterführen zu können. Ich habe nicht mehr rumgeheult, weil ich plötzlich so arm dran und behindert bin oder so. Außerdem saßen wir abends mal mit anderen Rollstuhlfahrern am Tisch zusammen und haben was getrunken und dann habe ich ein paar andere gesehen, die nicht mal ihre Hände bewegen konnten. In dem Moment habe ich gedacht: ,Mensch Merle, wie gut hast du es, dass du nur eine Querschnittslähmung hast‘.“
„Was denkst du, was sich heute in der Gesellschaft ändern muss, damit weniger Leute unter Depressionen leiden müssen oder wie den Betroffenen noch besser geholfen werden kann?“
„Die niedrigschwelligen Angebote müssen offener und größer gemacht werden, wie beispielsweise sozialpsychiatrische Beratungsstellen. Die Leute kommen nämlich auch zu dir nach Hause und können auch, mit Ärzt:innen zusammen, Einweisungen durchführen. Auch Selbsthilfegruppen sollten immer weiter ausgebaut werden. Ich glaube jedoch nicht, dass man präventiv etwas dagegen tun kann, dass es diese Krankheit grundsätzlich nicht mehr gibt.“
„Wie versuchst du Betroffenen Mut zu machen?“
„Wenn ich beispielsweise an der Hochschule Hannover lehre dann kommen ja jetzt nicht schon depressiv Erkrankte zu mir, sondern Leute, die sich vielleicht schützen möchten oder mehr Ressourcen entwickeln wollen. Ich unterstütze sie, indem ich vor allem das Thema Achtsamkeit lehre, also wie man achtsam mit sich selbst und seinen Gedanken umgeht. Wir sprechen an dieser Stelle auch von Selbstachtsamkeit, Selbstempathie, du kannst es auch Selbstliebe nennen. Also wenn du durchweg Menschen fragst ‚Auf einer Skala von eins bis zehn, wie hoch ist denn Ihre Selbstliebe ausgeprägt?‘, dann kriegt man tendenziell ganz niedrige Werte als Antwort. Man behandelt sich selbst meist schlechter als seinen Kumpel oder seine beste Freundin. Diese Neugier auf das Leben, die Selbstachtsamkeit zu wecken und die Resilienz zu stärken, das versuche ich dann. Wir besprechen auch häufig Themen wie Kopfkino, denn viele haben einfach dieses Gedankenkarussell im Kopf mit Negativspiralen und dann biete ich Methoden und Übungen an, wie man das wieder in den Griff bekommen kann.“
„Heutzutage arbeitest du auch als Psychotherapeutin nach dem Heilpraktikergesetz und als Hypnosetherapeutin. Denkst du, dass du aufgrund deiner eigenen Situation einfacher erkennen kannst, wie es Betroffenen geht und vielleicht auch schneller siehst, dass diese Person unter Depressionen leidet? Denkst du, dir fällt das leichter als jemandem, der nicht unter Depressionen leiden musste?“
„Naja, ich begegne den Menschen an der Stelle auf Augenhöhe, weil ich tatsächlich weiß, was die Betroffenen durchlebt haben. Ich glaube, in dem Moment ist das sowas wie Authentizität zwischen uns, also ich weiß, wovon jemand spricht, der sich so fühlt und ich sage dann auch, dass ich wirklich weiß, wie es sich anfühlt. In dem Moment gucke ich ja nicht wie ein Arzt von oben runter, sondern versuche auf Augenhöhe anzusetzen. Dadurch habe ich eine bestimmte oder manchmal auch eine andere Glaubwürdigkeit als jemand, der mit übereinandergeschlagenen Beinen und Notizblock in der Ecke sitzt und zuhört.“
„Denkst du, es sollte in den Medien häufiger über Depressionen und Suizid berichtet werden oder denkst du, es sollte verhindert werden? Denn es gibt ja beispielsweise den Werther- und den Papageno-Effekt, die beide unterschiedliche Thesen über dieses Thema aufstellen. Nach dem Werther-Effekt sollte man eher weniger berichten, weil Menschen dadurch vielleicht eher dazu getrieben werden, Suizid zu begehen. Der Papageno-Effekt besagt, dass man unbedingt richtig über die Situation aufklären sollte, um Betroffenen helfen zu können. Was denkst du darüber?“
„Es kommt ja immer darauf an, mit welcher Botschaft man darüber berichtet. Als meine Story zum ersten Mal ins Fernsehen kam, da haben sie ja auch erzählt, dass ich den Strommast hochgeklettert bin und mir so versucht habe, das Leben zu nehmen. Die Botschaft am Ende war aber: ‚Sie hatte Depressionen und jetzt ist sie eine glückliche Frau und man kann Depressionen überstehen‘. Wenn jetzt in den Medien aber käme: ‚Frau Müller hat sich auf die oder die Weise suizidiert‘, das würde keinen Sinn ergeben. Da würde ich schon sagen, der Werther-Effekt könnte da passieren. Über Depressionen sollte insgesamt jedoch mehr aufgeklärt werden. Ich finde, es sollte noch viel häufiger einfach über Depressionshilfen in den Medien gesprochen werden.“
„Zum Schluss würde mich interessieren, ob es noch eine Sache gibt, die du den Leser:innen dieses Interviews noch mitgeben möchtest?“
„Ich würde gerne die Botschaft mitgeben, dass es sich lohnt, egal wie schlecht es einem geht im Leben, auch wenn man so tief unten ist wie ich es war, dass man nie aufgeben sollte. Wenn man das durchsteht und wenn man nicht so handelt, wie ich es getan habe, dann wird es irgendwann wieder besser. Man hat nur das Gefühl, es wird nie wieder besser, aber man muss es durchstehen und irgendwann ist Licht am Horizont. Ich habe jetzt das Licht am Horizont erreicht und sitze dabei im Rollstuhl. Ich hätte mir gewünscht, dass ich vor dem Selbstmordversuch in die Psychiatrie gekommen wäre und meinetwegen hätten sie mich auch fixieren können, damit ich diesen Selbstmordversuch nicht gemacht hätte. Daher rate ich jedem Klienten, der hier ist und nicht mehr kann: ‚Halte durch! Es wird irgendwann besser.‘ Man kann das sogar fast versprechen, man muss nur durchhalten. Letztens hat sich ein zwölfjähriges Mädchen bei mir auf Facebook gemeldet und mir geschrieben, dass sie mein Buch ‚Mein Selbstmord ist mein Anfang‘, welches es übrigens auf Amazon zu kaufen gibt, gelesen hat und sie aus diesem Buch so viel Mut geschöpft hat, dass sie doch keinen Selbstmordversuch durchgeführt hat. Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch noch vielen weiteren Betroffenen, Mut machen kann, damit es ihnen am Ende besser geht.“
Wenn Sie Hilfe brauchen oder Sie jemanden kennen, der Hilfe braucht, dann zögern Sie nicht folgenden Nummern zu wählen:
Die Telefonseelsorge ist unter folgenden Nummern zu erreichen: 0800 111011 oder 0800 1110222.
Nummern die man in Notfällen wählen kann: 112 oder 116 117.
Von Elias Mantwill