„Ich hielt es nicht mehr aus. Meine Gedanken und Ängste wurden immer schlimmer. Ich war ans Bett gefesselt”, sagt Josephine L. Düstere Gedanken, die sich im Kreis drehten und aus denen sie nicht herauskam. Ein toxischer Cocktail aus Selbstzweifel, Hass, Panikattacken und Selbstverletzungen. Die 26-jährige Josephine L. leidet an einer Bipolaren-Störung und war bereits für kurze Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Sie ist auf der Suche nach einem ambulanten Psychotherapieplatz und das ohne Erfolg. Damit ist sie nicht allein.
Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. Sie wollen eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen, aber die Therapieplätze sind rar – jedenfalls bei Kassen-Therapeut:innen. „Jede Woche telefoniere ich hin und her. Mit Glück erreiche ich jemanden, um dann eine Absage zu erhalten. Nach und nach verliere ich den Mut.” Seit knapp einem Jahr sucht sie einen Therapieplatz. Und genau diese lange Wartezeit kann für viele Betroffene zum Verhängnis werden. Hilfe wird schnell gebraucht. Je länger die Wartezeit, desto mehr steigt die Gefahr, dass sich psychische Erkrankungen verschlimmern und die Betroffenen letztendlich die Suche nach Hilfe aufgeben. Beispielsweise kostet es depressive Menschen unglaublich viel Kraft, überhaupt den Hörer zu ergreifen und rund 20 Psychotherapeut:innen nach einem Termin zu fragen. Die Suche nach einem ambulanten Therapieplatz kann so zu einem unbesiegbaren Hindernis werden.
Laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) warten Hilfesuchende durchschnittlich mehr als fünf Wochen auf ein sogenanntes psychotherapeutisches Erstgespräch. Ein Erstgespräch dient zum gegenseitigen Kennenlernen und abklären, ob eine psychotherapeutische Behandlung in Frage kommt. Psychotherapeut:innen können im Erstgespräch je nach Beschwerden eine erste Einschätzung abgegeben. Nach dem Kennenlernen stellt sich die Frage, ob überhaupt die Chemie stimmt und sich die Betroffenen gut aufgehoben fühlen. Außerdem müssen viele Patient:innen nach dem Erstgespräch noch monatelang warten, bis sie mit der Therapie beginnen können. Laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) warten rund 40 Prozent der Patient:innen nach ihrem psychotherapeutischen Erstgespräch mindestens drei bis neun Monate auf einen ambulanten Therapieplatz. Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2019 – vor der Pandemie. Während Corona ist der Bedarf an Therapieplätzen weiter gestiegen. Vielen Betroffenen fehlt die Kraft, nochmals nach einem passenden Therapeuten zu suchen. Ohne eine gute Vertrauensbasis ist so auch fraglich, ob die Therapie überhaupt erfolgreich sein kann.
Was läuft schief in der psychologischen Versorgung? Was muss sich ändern? Darauf werfen wir einen Blick.
Mehr Kassensitze für Psychotherapeut:innen
Das Problem ist, dass es insgesamt zu wenige Kassensitze gibt und die Versorgung somit nicht ausreichend ist. Ein Kassensitz ist eine Zulassung für Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen, die es ermöglicht, vertragsärztlich zu arbeiten. Sie können mit einem Kassensitz neben privat Versicherten auch die gesetzlich Versicherten behandeln und ihre Tätigkeit mit den Krankenkassen abrechnen. Die Zahl der zugelassenen Psychotherapeut:innen steigt, doch nur knapp über die Hälfte werden von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt. Es fehlen bundesweit rund 2.400 Kassensitze – genügend Psychotherapeut:innen wären verfügbar. Der Gemeinsame Bundesausschuss genehmigte aber nur rund 800 weitere Kassensitze. Nur: Die meisten Menschen können sich keine Selbstzahler-Psychotherapie leisten.
Wenn mehr Kassensitze eingerichtet werden würden, könnten die aktuellen Kassentherapeut:innen entlastet werden. Denn die Wartelisten von Kassentherapeut:innen sind durch den enormen Anstieg an psychischen Erkrankungen sehr lang. Durch mehr eingerichtete Kassensitze würde sich also die Wartezeit für Hilfesuchende verkürzen.
Kostenerstattungsverfahren: Systemversagen
Wenn die Suche nach einem Therapieplatz kein Ende findet und eine Absage nach der anderen kommt, können gesetzlich Versicherte sich in einer psychotherapeutischen Privatpraxis behandeln lassen – Psychotherapeut:innen ohne Kassenzulassung. Die Kosten für die Sitzungen können sich Betroffene dann von ihrer jeweiligen Krankenkasse erstatten lassen.
Um die Kostenerstattung zu erhalten, muss ein Nachweis, dass trotz vergeblicher Bemühungen kein Therapieplatz gefunden werden konnte, eingereicht werden. Dafür müssen alle Anrufe und Absagen protokolliert werden – in der Regel fünf bis zehn Absagen. Außerdem erwarten einige Krankenkassen einen Nachweis darüber, dass Betroffene sich wiederholt (ca. fünf Mal) an die Terminservicestellen gewendet und keinen Termin für ein Erstgespräch erhalten haben.
Es gibt keine eindeutige rechtliche Regelung, unter welchen Voraussetzungen Krankenkassen eine Psychotherapie im Kostenerstattungsverfahren genehmigen müssen. Selbst mit den genannten Nachweisen können Krankenkassen den Antrag auf Kostenerstattung ablehnen – und das passiert leider zu oft. Nur rund die Hälfte aller Patient:innen bekommen die Kostenerstattung für eine private Psychotherapie genehmigt. Aus einer aktuellen Umfrage der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) geht hervor, dass 48 Prozent aller Anträge in 2021 abgelehnt wurden.
Hier versagt das System. Bei einer Ablehnung kann zwar ein Widerspruch eingelegt werden, aber Therapiesuchende leiden schon genug und sollten nicht noch mehr Hürden überwinden müssen. Das monatelange Warten zerrt am Gemüt und kann die Situation der Hilfesuchenden drastisch verschlimmern.
Videositzungen – Positives aus der Pandemie
Die Corona-Lage machte es möglich. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung setzte die Anzahl der zulässigen Videogespräche hoch – von 20 Prozent auf eine unbegrenzte Nutzung. Allerdings wurde die pandemiebedingte Sonderregelung am 1. April 2022 wieder aufgehoben. Nun dürfen Psychotherapeut:innen maximal 30 Prozent ihrer gesamten Sitzungen (alle Patient:innen zusammen) als Videostunden anbieten und abrechnen. Außerdem müssen mindestens die ersten drei Sitzungen in Präsenz stattfinden. Eine Praxis könnte zum Beispiel eine bestimmte Leistung bis zu 100 Prozent über Video durchführen, wenn andere videofähige Leistungen patientenübergreifend verhältnismäßig vermehrt per Präsenz in der Praxis und nicht per Video stattfinden. Wichtig ist, dass Psychotherapeut:innen die 30-Prozent-Grenze patientenübergreifend insgesamt per Quartal nicht überschreiten.
Die Videositzungen eignen sich besonders für Patient:innen, die beruflich viel unterwegs sind, einen weiten Weg zur Praxis haben oder bettlägerig sind. Unterstützung und Hilfe in Anspruch zu nehmen, wird häufig durch Angst und Scham erschwert. Eine Videostunde in Anspruch zu nehmen, kann für einige Menschen leichter fallen. Außerdem bieten Videositzungen auch mehr Flexibilität für Therapeut:innen – eine Win-Win-Situation. Durch den Einsatz von Videositzungen kann eine bessere Versorgung gewährleistet werden. Die Pandemie machte die unbegrenzte Nutzung möglich, warum nicht auch jetzt?
Zurück zu Josephine. Sie überbrückt aktuell die Wartezeit auf einen Therapieplatz mit Hilfe einer Selbsthilfegruppe. Für sechs Monate steht sie auf der Warteliste – für sie eine unzumutbare Zeit. „Die Selbsthilfegruppe ist nicht die optimale Lösung, aber ohne die Gruppe wäre vielleicht Schlimmeres passiert”, sagt Josephine L.
So kann die Wartezeit überbrückt werden
Ich habe einige Möglichkeiten zusammengestellt, die bei einer langen Wartezeit weiterhelfen können.
Gruppentherapie
In einer Gruppentherapie ist oft eher ein Platz frei als in einer Einzeltherapie. Die Krankenkassen bezahlen auch diese Therapieform. Die Gruppe kann aus unterschiedlich vielen Teilnehmenden bestehen – Minimum aus vier Patient:innen.
Akutbehandlung
Im Jahr 2017 gab es eine Reform der Psychotherapie-Richtlinie. Diese besagt, dass Betroffene schneller an Hilfe kommen sollten. Psychotherapeut:innen müssen demnach Sprechstunden sowie Akutbehandlungen anbieten, um die Versorgung für Betroffene zu verbessern.
Der Umfang einer Akutbehandlung beträgt bis zu zwölf Therapieeinheiten. Das Ziel bei einer Akutbehandlung ist, dafür zu sorgen, dass die psychischen Symptome nicht schlimmer werden und die Patient:innen sich stabilisieren können. Die Wartezeit zur eigentlichen Therapie kann mit Hilfe einer Akutbehandlung überbrückt werden.
Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) können einen ersten Termin vermitteln – in der Regel innerhalb von vier Wochen. Sie vermitteln einen Termin für ein diagnostisches Erstgespräch oder eine Akutbehandlung. Bei Terminen für eine Akutbehandlung beträgt die Wartezeit maximal zwei Wochen. Eine Terminvergabe an einen Wunschtherapeuten ist nicht möglich, daher kann die Anfahrt länger sein.
Ein diagnostisches Erstgespräch sichert leider noch keinen festen Therapieplatz. Die erteilte Diagnose kann aber dafür sorgen, dass Patient:innen früher einen Psychotherapeuten zu sehen bekommen.
Psychosoziale Beratungsstellen
Psychosoziale Beratungsstellen ersetzen zwar keine Psychotherapeut:innen, trotzdem eignen sich die Beratungsgespräche für viele Menschen zur Überbrückung der Wartezeit. Dort arbeiten in der Regel Sozialarbeiter:innen, Sozialpädagog:innen, Ärzt:innen oder Psycholog:innen. Bei den meisten Beratungsstellen werden auch spontan Termine vergeben, um den Personen möglichst schnell zu helfen. In Darmstadt empfiehlt sich zum Beispiel eine Kontaktaufnahme mit den Beratungsstellen der Caritas oder des Gesundheitsamtes. Für Studierende der TU und der Hochschule Darmstadt gibt es eine zusätzliche psychotherapeutische Beratungsstelle (PBS) des Studierendenwerks.
Selbsthilfegruppen
Eine Selbsthilfegruppe bietet die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Sinnvoll sind Selbsthilfegruppen auch für Menschen, die bereits eine Therapie hinter sich haben oder aktuell in einer Therapie sind. Hier treffen sich Personen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben und sich gegenseitig helfen. In der Regel können Betroffene einfach bei der nächsten Sitzung dazustoßen.
Telefonische Beratung
Eine schnelle Möglichkeit, um sich jemandem anzuvertrauen, bieten die vielen telefonischen Beratungsdienste. Dort arbeiten geschulte Personen, die ein offenes Ohr haben und mit möglichen Lösungen helfen können. Hilfesuchende können ihre Sorgen und Probleme schnell mit einem Unbeteiligten teilen. Zum Beispiel ist die Telefonseelsorge rund um die Uhr erreichbar (0800 – 1110111 oder 0800 – 1110222).
Psychiatrische Klinik – Notfall
Eine weitere Option ist die jederzeitige Aufnahme als Notfall in einer Psychiatrie. Das ist zum Beispiel für Menschen mit starken Suizidgedanken möglich oder für Menschen, die eine Gefahr für andere Personen darstellen. Eine stationäre Therapie wird normalerweise entweder durch Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen veranlasst, aber bei einem Notfall ist keine Überweisung notwendig.
Zuständige Psychiatrische Klinik in Darmstadt:
Agaplesion Elisabethenstift, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Telefon im Notfall: (06151) 403 – 0
Telefon (regulär): (06151) 403 – 40 10
Psychiatrischer Notdienst in Darmstadt:
Freitag, Samstag, Sonntag und an Feiertagen jeweils von 18:00 – 23:00 Uhr. In dringenden Fällen kommt der Psychiatrische Notdienst auch zu einem nach Hause.
Telefon: 06151 / 159 49 00
Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung den Notruf (112) wählen.
Psychologische Online-Beratung
Psychologische Hilfe gibt es mittlerweile auch vermehrt online. Psychologische Online-Angebote eignen sich nicht für jede psychische Erkrankung. Bei schweren psychischen Erkrankungen kann ein Online-Angebot sogar zum ernsten Risiko werden. Online-Angebote eignen sich vor allem für Menschen, die sonst keine Hilfe in Anspruch nehmen würden oder die eine lange Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken möchten. Betroffene können direkt loslegen, ohne warten zu müssen. Ein bekanntes Beispiel ist das digitale Programm “HelloBetter”. Patient:innen führen bei “HelloBetter” interaktive Online-Kurse durch. Dabei beantworten sie Fragen und bekommen verschiedene Übungen. Bei den Online-Kursen werden die Teilnehmenden durch Psycholog:innen über das Internet betreut. Für die Kurse brauchen Betroffene ein Rezept, welches Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen ausstellen. Die Krankenkasse übernimmt dann die Kosten.
Familie und/oder Freunde einbinden
Die Suche nach einem Therapieplatz und lange Wartezeiten können eine zusätzliche seelische Last werden. Verwandte oder Freunde können in dieser schwierigen Zeit helfen und unterstützen. Auch wenn einem auf der Suche nach einem Therapieplatz zahlreiche Steine in den Weg gelegt werden, sollten diese Steine niemanden davon abhalten, sich Hilfe zu suchen.
Von Fabienne Kissel
Quellen:
Corona-Sonderregeln. (o. D.). Kassenärztliche Vereinigung Hessen. Abgerufen am 01.12.2022.
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